Wie kann so viel ingenieurstechnisches Versagen durch sämtliche Ingenieurshände gelangen, ohne dass dieser Irrsinn auffällt?

Im Mai erreichten uns von einem Leser unserer Seiten über kontakt (at) ingenieure22.de Fragen zur Situation um den entstehenden Tiefbahnhof, die wir wegen ihrer Allgemeingültigkeit hier auf unserer Plattform unter Fragen und Antworten allen Lesern zur Verfügung stellen wollen. Wir haben den Leser vorher gefragt, ob wir seine Fragen veröffentlichen dürfen. Wir haben sein Einverständnis, er ist die „Ich-Form“ in der Mail. Die Antwort-Mail ist leicht gekürzt und geringfügig überarbeitet. Wir geben (kursiv) unsere Antworten. (Geantwortet hatte seinerzeit Wolfgang K. für Ingenieure22, daher ist er in den kursiven Einschüben der Antworter in „ich-Form“):

An: kontakt (at) ingenieure22.de
Betreff: Fragen zum EBA
Datum: Tue, 12 May 2020 00:36:40 +0200
Hallo zusammen,

ich […] komme gebürtig aus dem Kreis Ravensburg. Seit über fünf Jahren wohne ich jetzt in Stuttgart und habe mich in dieser Zeit extrem politisiert und u.a. vor drei, vier Jahren (lieber spät als nie) angefangen mich mit dem Tiefbahnhof auseinanderzusetzen. Je mehr ich darüber gelesen habe, desto mehr war ich schockiert was da abgeht. Bei der Abstimmung war ich damals 19 Jahre alt und habe für den Bahnhof gestimmt, weil das Projekt in Oberschwaben mehrheitlich mit dem Argument "dann simmer ja schneller in Schtuaget" abgesegnet wurde.

So ging die Diskussion auch in meiner Familie vonstatten.

Nach meinem Erkenntnisgewinn habe ich versucht sowohl meinen Vater als auch meinen Bruder, die beide sowohl bauingenieurstechnische Tätigkeiten als auch reichlich Feuerwehrerfahrung nachzuweisen haben, zu überzeugen, sich von diesem Projekt zu distanzieren.

Bei meinem Bruder bin ich da von Anfang an auf taube Ohren gestoßen, sodass ich da die Überzeugungsarbeit bei Zeiten eingestellt habe. Meinen Vater nerve ich aber seitdem regelmäßig mit dem Thema und bin vergangenes Wochenende einen entscheidenden Schritt vorangekommen. Inzwischen sind wir an einem Punkt in der Diskussion angelangt, an dem er zugibt, dass wenn meine Behauptungen alle stimmen sollten, es absoluter Wahnsinn wäre.

Ein großes Problem ist die Komplexität des Ganzen. Für mich persönlich war die Schlichtung 2010/11 das Schlüsselerlebnis. Was dort vorgetragen wurde, zeigte, dass das Projekt niemals hätte begonnen werden dürfen, weil es die Eisenbahninfrastruktur nicht erweitert sondern ganz empfindlich schwächt. (Unseren Leporello „Der wahre Fortschritt fährt oben“ werden Sie vermutlich kennen, er ist von unserer Homepage unter Informationsmaterial herunterladbar. Er erläutert die Basis-Diskrepanzen zwischen Projekt (Stuttgart 21) und Null-Variante (Erhalt des Kopfbahnhofs))
Nach der Schlichtung war ich verwundert, dass doch begonnen wurde, schleppend zwar, aber irgendwie doch. Die entscheidende Wende brachte die „Volksabstimmung“. Die Mehrheit der Baden-Württembergischen Bevölkerung stimmte gegen den Ausstieg aus der Finanzierung und damit für das Projekt. Dass die Information der Bevölkerung auf Unwahrheiten beruhte, kann man nachlesen in der Landesbroschüre für den 27.11.2011.
Die Aussagen der Befürworter des Projekts sind fast ausschließlich unwahr. Das Projekt war längst ein politisches geworden, Fakten interessierten nicht.
Auf vielen Planfeststellungen war ich dabei, ich verstehe es bis heute nicht, dass sich die Zweifel nicht durchsetzen konnten.

Allerdings fehlt ihm noch der Glaube daran, wie soviel ingenieurstechnisches Versagen durch sämtliche Ingenieurshände gelangen kann, ohne dass einem dieser Irrsinn auffällt.

Alle Ingenieure machen ihre Aufgabe. Sie fragen nicht danach, ob das Ganze später auch wirklich funktioniert. Jede Aufgabe wird irgendwie gelöst, meist muss sie sich ja nicht in Extremsituationen beweisen. Der Tiefbahnhof wird Züge abfertigen können. Wir sagen, mehr als 32 werden es nicht sein KÖNNEN, weil der Brandschutz in der unterirdischen Tunnelspinne sonst nicht gelöst werden kann. Wenn nicht erheblich von Sicherheitserwägungen abgewichen wird. Die Bahn verneint diese Abhängigkeit. Nur eine Stimme der Bahn dazu:
Zitat daraus: "Bereits vor gut zehn Jahren wurde das Thema umfassend behandelt. Es war Gegenstand des ersten Planfeststellungsbeschlusses von 2005. Darin haben die Experten Heimerl und Schwanhäuser die (geforderte) Leistungsfähigkeit des neuen Bahnknotens behandelt, analysiert und nachgewiesen. - Mit Erlass des Planfeststellungsbeschlusses hat das Eisenbahn-Bundesamt als Aufsichtsbehörde die Leistungsfähigkeit des neuen Bahnknotens überprüft und bestätigt. - Auch die Gerichte haben – damals wie heute – diese im Rahmen von zahlreichen Verfahren über die Jahre zu jeder Zeit und uneingeschränkt bestätigt." - 

Alles ganz recht, aber es geht immer nur um 32 Züge!!

Herr Dietrich beruft sich dabei auf Gutachten von Heimerl und Schwanhäußer, beides Professoren. Diese Gutachten sind manipuliert bzw. geben das nicht her, was man aus ihnen ableitet. Es gibt sogar verschiedene Versionen. Das ist alles auf Wikireal nachzulesen. Aber bei der Bahn stößt man damit auf taube Ohren, es muss ja noch nicht bewiesen werden.
Auf Wikireal wird die Leistungsminderung Stück für Stück nachgewiesen.
Aber wenn man so viel Material braucht, um nachzuweisen, dass etwas nicht funktioniert, wird es ignoriert. Die Bevölkerung möchte einfache, überschaubare Argumente. Niemand berücksichtigt heute, dass die Urteile zur Planfeststellung in einer Randziffer enthalten, dass nur 32 Züge in dem Bahnhof fahren.
Hans Heydemann hat Ihnen das umfangreiche Brandschutzgutachten zukommen lassen, 18 MB. Dieses Brandschutzgutachten beantwortet viele Fragen zum Brandschutz und doch geht die Bahn davon aus, dass alles so gebaut werden darf, wie sie es vorhaben. Die einschlägigen Bestimmungen machen an den entscheidenden Punkten keine genauen Vorgaben. Sonst wäre es einfach. So kann man einen Zug im Tunnel in 15 Minuten Evakuieren, obwohl jeder weiß, dass es nicht geht. In Montabaur hat es für einen halb besetzten ICE3 ca. 40 Minuten gebraucht, genau wird das nicht festgestellt im Unfallbericht, weil man sonst feststellen müsste, dass von den Evakuierungsbestimmungen erheblich abgewichen wurde. Man wartete nicht, bis der Notfallmanager da war, der kam praktisch zum Ende der Evakuierung. Man wartete nicht, bis sicher war, dass keine Hochspannung mehr auf dem Fahrdraht war und man kümmerte sich nicht darum, ob auf dem Gegengleis noch Züge hätten fahren können. Sonst hätte es noch länger gedauert. Aber im Unfallbericht liest man darüber seltsam verschwommenes. Nicht einmal die Anzahl der Reisenden ist festgehalten. Hier sind noch viele Fragen offen, die durchaus in die Brandschutzplanung für Stuttgart 21 hineinwirken. Doch juristisch das fest zu machen, scheint ungeheurer schwierig zu sein.

Konkret geht es dabei um den Brandschutz im Tunnel, wo er inzwischen einsieht, dass rund 1700 Leute in zwei Minuten aus einem Zug zu evakuieren schlicht einem Märchen gleicht und eine Fluchtwegmindestbreite von 60cm (ich dachte immer 90cm) schlichtweg einer vorsätzlichen Tötung entspricht.

Die Fluchtwegbreite soll 120 cm betragen. Aber an manchen Stellen dürfen bis zu 30 cm Einbauten durch Signale und andere betriebsnotwendige Einbauten wegfallen. Also nur noch 90 cm. Nun will man beim Evakuieren den Höhenunterschied von 76/77 bis 90 cm überbrücken, dazu gibt es einige wenige Leitern im Zug, die, wenn man überhaupt die Zeit zum Installieren hat, dann in diesen Fluchtweg hineinragen. Vielleicht 60 cm, ganz genau ist das nicht sicher. Dann bleiben an der Stelle nur noch 60 cm, wenn nicht auch noch 30cm von der anderen Seite fehlen. Bei der Evakuierungssimulation wurden alle diese Punkte nicht berücksichtigt. Man hat einfach an jede Türe so eine Leiter gestellt und sie aber beim Hineinragen in den Fluchtweg vergessen. Spricht man die Bahn darauf an, sagt sie, die Simulation ist nicht vorgeschrieben. (Wie nagelt man einen Pudding an die Wand?)

Er fordert die Einsicht in die Gegendarstellung der Bahn, wobei ich stets auf eure Homepage verweise.

Wir verwenden in unseren Unterlagen die Darstellungen der Bahn, versuchen dabei, das gezeigte kritisch zu hinterfragen.

Zwar werden dort die Argumente der Bahn stets eindrucksvoll widerlegt, jedoch bräuchte er die offizielle Gegendarstellung der Bahn, die ich dort nicht finden konnte.

Eine große Abrechnung unserer Argumente gegen das Projekt hätte zur Planfeststellungserörterung für den Planfeststellungsabschnitt PFA 1.3 (später a genannt) erfolgen sollen. Eigentlich war noch ein Erörterungstag übrig, der wurde aber, als Dr. Christoph Engelhardt unsere Kritik vorbringen sollte, abgebrochen. So wurde nur ein kleiner Rest in die Erörterungsverhandlungen eingebracht. So eine Erörterung ist wie eine Schlichtungsverhandlung. Man bekommt Einsicht in die Argumente. Aber es ist sehr aufwendig, das nachzuvollziehen, bei der Schlichtung muss man tagelang Filme angucken, bei der Erörterung muss man Wortprotokolle lesen, wenn man sie überhaupt bekommt. Aus den Wortprotokollen werden Erörterungsberichte erstellt, die dann zum EBA gehen und die Planfeststellung dort vorbereiten. Danach wird dann der Plan festgestellt. An die eigentlichen Schlagabtausche zu gelangen, ist sehr schwierig. Nur die Beteiligten an der Planerörterung haben, wenn überhaupt, die Unterlagen.

Gibt es öffentlich zugängliche Unterlagen der Bahn z.B. zum Thema Brandschutz oder wird die Einsicht der Öffentlichkeit bewusst vorenthalten?

In den letzten Monaten kamen wir an Unterlagen der Bahn, weil wir 2016 eine Umweltinformationsanfrage stellten und nach Ablehnung 2017 auf Einsicht klagten, vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart verloren und in der zweiten Instanz vor dem Verwaltungsgerichtshof 12/2019 die Einsicht zugesprochen bekamen (Weil wir Kopien wollten aber nur Einsicht bekamen, wurde es nur ein Vergleich 80% zu unseren Gunsten). Zwei Einsichttermine und monatelange Auswertung und Nachprüfungen durch Simulationen, danach hatten wir das Ergebnis eines Aspekts des Brandschutzes. Das zeigt, wie umfangreich so eine Untersuchung ist, manchmal fast nicht zu bewältigen. Die Schwierigkeit, an solche Unterlagen zu kommen, könnte man schon so etwas wie bewusst vorenthalten nennen. Einmal hat der oberste Brandschützer der DB eine öffentliche Diskussion deswegen verweigert, weil solche Diskussionen immer zu Irritationen der Öffentlichkeit führen. „…dass die Erläuterungen von Katastrophen bzw. das Aufzeigen von Worst Case Szenarien in der Öffentlichkeit häufig für Unruhe sorgt, und schlägt vor diesen Pkt. nicht … vorzutragen.“

Was ich ihm auch nicht wirklich erklären konnte, ist die Rolle des Eisenbahnbundesamtes.

Herr Heydemann hat hierzu ja schon einiges geschrieben.
Mir ist es selbst unbegreiflich wie ein solches "Kontrollorgan" derart versagen kann.
Es existiert das Gerücht, als es darum ging, dass der Tiefbahnhof eine Gleisneigung von mehr als 15‰ haben sollte, hat sich der genehmigende Beamte notariell absichern lassen, dass er das nicht aus freien Stücken genehmigte. Leider ist es nicht gelungen, den inzwischen im Ruhestand befindlichen Beamten ausfindig zu machen.
Die Genehmigungspraxis für die Gleisneigung findet sich in Eisenbahn-Revue International 11/2011 Seiten 8500-8501, Sven Andersen, „Das Bahnsteiggleisgefälle im neuen Stuttgarter Tiefbahnhof im Licht der TSI Infrastruktur HGV“
Vorschriften werden auf politischen Druck so geändert, dass es zuletzt passt, sowohl auf deutscher wie auch auf europäischer Ebene.

Welche Personen mit welcher beruflichen Vergangenheit sitzen beim EBA in den Führungspositionen?

Man kann auf den Seiten des EBA die derzeitigen Organigramme herunterladen. Dann muss man weiter recherchieren. Auch eine Liste der Gutachter gibt es dort. Während wir beim Bau den Eindruck haben, dass alles im Wesentlichen solide geprüft und gebaut wird, ist das, was die Brandschutzplanung angeht, nur teilweise gelöst. Entscheidende Fragen werden wohl erst mit oder nach der Inbetriebnahme bearbeitet.

Wie ist es möglich, dass solch ein ingenieurstechnischer Wahnsinn immer und immer wieder durchgewunken werden kann, wo es doch offensichtlich ist, dass die Bahn bei ihren Simulationen manipuliert?

Das Spannungsfeld zwischen Politik – Wirtschaft – Deutsche Bahn ist nicht einfach zu durchschauen.

Welches Interesse hat das EBA diese Genehmigungen zu erteilen?

Man kann wohl nicht von einer völlig unabhängigen Behörde sprechen.

Besteht die Möglichkeit, dass das EBA von der Bahn bestochen wird?

Wie soll man so eine Frage beantworten?

Wieso erkennen die aktuell an dem Projekt arbeitenden Ingenieure diese komplette Fehlkonstruktion nicht an?

In der Planungsphase lässt sich vieles einfach so darstellen, dass es passt, in der Ausführungsphase muss es dann irgendwie doch realisiert werden. Nicht umsonst beträgt die Bauzeit seit 20 Jahren konstant um die 7 Jahre. Es ist noch nicht raus, dass der Inbetriebnahmetermin Ende 2025 ist. Jetzt wird es schon eine Teil-Inbetriebnahme sein, das kann auch noch 2027 werden, bis alles fertig ist. Beim BER behauptet Architekt Hascher in Die Zeit (20.8.2015), dass die Bauausführung nach Aufwand bewusst angesteuert wurde von Firmen. Ein ständiger Geldstrom lässt sich so anzapfen.

Ihnen muss doch bewusst sein, dass dies früher oder später scheitern wird und rechtliche Folgen für sie haben wird. Wieso gehen diese Ingenieure dieses rechtliche Risiko ein?

Werden die Verantwortlichen wirklich herangezogen? Das ist noch nicht sicher. (Letztes Beispiel: Duisburg Love-Parade), kein besonders gutes Beispiel. Wer musste bisher in Berlin beim BER Verantwortung übernehmen?

Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn sie mir diese Fragen einigermaßen anschaulich erklären könnten.

Vielen Dank für ihr jahrelanges Engagement zur Aufklärung der Bevölkerung

Der Fortschritt fährt oben

Genau!
Oben gesund bleiben.
Wolfgang K.
ingenieure22
15.5.2020