#Digitale Schiene und ETCS

Ein Kommentar von Ulli Fetzer, Ingenieure22 - 28.10.2018

Inzwischen ist der Begriff Digitalisierung von unseren Politikern fast täglich zu hören. Manchmal gewinnt man als Ingenieur den Eindruck, dass die meisten Politiker gar nicht wissen, was sich letztlich dahinter verbirgt.

Nun hat auch die Deutsche Bahn mit dem Projekt →#Digitale Schiene die Digitalisierung auch bei der Bahn eingeläutet. Kernstück dieser Digitalisierung bei der Bahn soll das Europäische Zugbeeinflussungssystem ETCS (European Train Control System →Wikipedia) sein. Diesem ETCS werden wahre Wunderdinge zugeschrieben, so heißt es in einer Mitteilung der DB vielversprechend:
Die Deutsche Bahn will mit der Digitalisierung des gesamten Schienennetzes die Kapazitäten für den Zugverkehr um bis zu 20 Prozent erhöhen und damit tausende zusätzliche Züge am Tag ermöglichen.

Und in Digitale Schiene Deutschland: Revolution für den Bahnbetrieb steht:
Die intelligente Vernetzung aller Daten von Infrastruktur und Fahrzeugen ermöglicht eine völlig neue Organisation des Bahnbetriebs und ist der Schlüssel für eine höhere Kapazität des bestehenden Schienennetzes um bis zu 20 Prozent – ohne Neubau von Gleisen.

20% mehr Kapazität, Tausende von zusätzlichen Zügen am Tag, ohne Neubau von Gleisen? Und das nur durch die flächendeckende Implementierung einer neuen Zugbeeinflussung? Nun, die DB hat eigens dafür eine →Machbarkeitsstudie zum Projekt Zukunft Bahn bei McKinsey & Co erstellen lassen, dann muss ja alles in Ordnung sein!

Die Wahrheit sieht allerdings ganz anders aus, so hat ein Experte aus der Eisenbahnindustrie die Aussichten von ETCS in wenigen Worten zusammengefasst:

  1. ETCS ist ein Sicherungssystem. Sicherheit erkauft man sich durch eine Verschlechterung der Leistung. Immer! Nach Einführung des ETCS in der Schweiz wurde (bei sonst gleichem Ausbau der Strecke) eine Leistungsminderung von ca. 10% verzeichnet. Das ist der Preis für die Sicherheit!
  2. Die „Leistungserhöhung mit ETCS" kommt nicht von ETCS, sondern von einer dichteren Blockteilung. Das kann man auf jeder Strecke machen, kostet aber eine Stange Geld. Das hätte man schon seit 30 Jahren bei der S-Bahn in Stuttgart machen können und mit der Linearen Zugbeinflussung (LZB) genausogut nutzen können.
  3. LZB ist ein rein deutsches Sicherungssystem, mit vergleichbarer Funktionalität wie ETCS. Heute ist ETCS natürlich die bessere Wahl, da es europaweit einheitlich und auf Neubaustrecken ohnehin Pflicht ist.
  4. Die real zu erwartende Leistungssteigerung bei der S-Bahn Stuttgart „mit dichterer Blockteilung und ETCS" ist vor allem durch die Zeiten für den Fahrgastwechsel begrenzt.
    ⇒ alles in allem: ein paar Prozent mehr, das war es. Die zu erwartenden Engpässe durch Stuttgart 21 werden damit kaum auszugleichen sein.

ETCS war ursprünglich nur im Fernverkehr und Schnellfahrstrecken vorgesehen, nicht aber in S-Bahn-Netzen. Für den Einsatz im S-Bahn-Betrieb mit dichter Zugfolge und vielen, oft kurz hintereinander folgenden Haltestellen gibt es weder Erfahrungen noch eine Zulassung. Derzeit findet auf einer S-Bahn-Strecke in Hamburg ein Testbetrieb statt. In Stuttgart soll ETCS auf einer eingleisigen Strecke der S60 erprobt werden.  

DB: Mit im Schnitt 1,3 Milliarden Euro pro Jahr für die Infrastruktur und zusätzlichen Mitteln für die Fahrzeuge ist die Digitalisierung der Eisenbahnen in Deutschland innerhalb von etwa 20 Jahren realisierbar.

20 Jahre, in denen man zwangsläufig zweigleisig fahren muss. Denn erst wenn alles auf ETCS umgestellt ist, kann man die alte Technik abbauen.

Man darf nicht glauben, dass mit ETCS ein ICE mit 240 km/h (67 m/s) in 100 Meter Abstand direkt hinter einem anderen Zug herfahren könnte. Nein, der Abstand muss mindestens so groß sein, dass der nachfolgende Zug bei jeder gefahrenen Geschwindigkeit noch jederzeit hinter dem vorausfahrenden anhalten kann, auch wenn dieser z.B. durch Entgleisung abrupt zum Stehen kommt. Die für Fahrgäste maximal zumutbare Bremsverzögerung eines Personenzugs beträgt ca. 1 m/s². Daher macht bei den ICE-Reisegeschwindigkeiten ein Blockabstand von weniger als 1 km keinen Sinn. In S-Bahn-Netzen sieht es etwas anders aus, aber dort sind bereits heute die Blockabstände relativ kurz. Gegenüber der heutigen Technik ändert sich daher diesbezüglich gar nichts.

Was sich ändert ist, dass die konventionellen Signale nicht mehr an der Strecke stehen müssen, sondern über Mobilfunk (GSM-R) vom Stellwerksrechner in den Führerstand des Lok- bzw. Triebwagenführers eingeblendet werden und die bisherigen Magnete zur Zugerkennung durch sog. Balisen ersetzt werden, die ebenfalls über GSM-R mit dem Stellwerksrechner kommunizieren.

Nachtrag:
Da ETCS im Tiefbahnhof, den Zulauftunnels von Stuttgart 21 und der Neubaustrecke, sowie auf der Stammstrecke der S-Bahn Stuttgart eingesetzt werden soll, war ETCS auch eines der Themen bei der ‚Stuttgart 21'-Lenkungskreissitzung am 5.11.2018. Den Folienvortrag der DB (42 Seiten) können Sie von der →PSU-Webseite herunterladen. Darin finden Sie in 4. Sachstand ETCS 6 Folien zu ETCS. Wir haben die entsprechenden →Folien (29-34) aus dem Original-PDF-Dokument der PSU extrahiert. Erstaunlich, dass man erst in der Studie erkannt hat, dass zuerst die vielen vorhandenen Funklöcher gestopft werden müssen, bevor auch die S-Bahn mit ETCS ausgerüstet werden kann und so wieder ein paar Sekunden zurückholen kann, die vor dem Baubeginn von Stuttgart 21 mit der Methode des Nachrückens (Fahren auf Sicht = zurückgezogene Ausnahmegenehmigung des EBA) gewonnen wurden.


Links auf DB-Dokumente zu Digitale Schiene (allePDF):


Die Einschätzung von ETCS bei der Stuttgarter S-Bahn können Sie in mehrerern Beitragen auf unserer Partnerseite S-Bahn-Chaos.de nachlesen, z.B. bei