Offener Brief der Ingenieure22 an Thorsten Krenz, DB-Bevollmächtigter für Baden-Württemberg (25.7.2019)

Vorhaben Stuttgart 21 / Vorstellung der Leistungsfähigkeit von S21 in der öffentlichen Sitzung am 16.7.2019 vor dem S21-Ausschuss des Stuttgarter Gemeinderates als auch Ihre Stellungnahme vom 2.7.2019 zur Sendung des SWR zur unzureichenden S21-Leistungsfähigkeit


Sehr geehrter Herr Krenz,

Ihre o.g. Stellungnahme v. 2.7.2019 zur Sendung des SWR zur unzureichenden Leistungsfähigkeit von „Stuttgart 21“ als künftigem Stuttgarter Bahnknoten für den geplanten Deutschlandtakt wie auch Ihr Vortrag hierzu am 16.7.2019 in der öffentlichen Sitzung am 16.7.2019 vor dem S21-Ausschuss des Stuttgarter Gemeinderates können nicht unwidersprochen stehenbleiben.

Vorweg: die DB AG war geladen worden, um die in Anträgen der Fraktionen Bündnis/Grüne sowie der SÖS-Linke gestellten Fragen zur Leistungs- und Zukunftsfähigkeit des im Bau befindlichen Tiefbahnhofs „Stuttgart 21“ schlüssig und vollumfänglich zu beantworten und jetzt die vermehrt aufkommenden Zweifel schlüssig begründet zu entkräften. Dem sind Sie in keinem Fall nachgekommen.

Stattdessen beschweren Sie sich in Ihrem Rundschreiben vom 2.7.2019 darüber, dass der SWR sich nicht zuvor mit der DB AG über den Sendebeitrag abgestimmt habe – mit dem offensichtlichen Ziel eines nach DB-Vorstellung „weichgespülten“ Beitrages. Sie werfen dem SWR „einseitige, hochselektive und teils schlicht falsche Behauptungen“ vor, was im Einzelnen von der DB AG nachzuweisen wäre. Auch die DB AG muss sich öffentlich geäußerter Kritik stellen.

Denn anstatt diese sachlich und nachvollziehbar begründet zu widerlegen, gehen sie auf wichtige Einzelheiten gar nicht ein. Stattdessen erzählen sie der Öffentlichkeit und den Stuttgarter Gemeinderäten zur Leistung und Zukunftsfähigkeit von Stuttgart 21 nur unhaltbare Behauptungen.

Machen wir uns nichts vor: Ihre Zug oder auch An- und Abfahrtszählungen dienen mehr der Verschleierung als Offenlegung der Verhältnisse. Sie stellen falsche Bezüge her, vergleichen ungleiche Eigenschaften. So versucht man zu verschleiern, dass der Bau des Stuttgart 21-Tiefbahnhofs ein Infrastrukturrückbau ist und dass bis heute nicht geklärt ist, was in dieser Infrastruktur überhaupt fahren darf. Grundangebote sind keine Leistungsmerkmale und kennzeichnen auf gar keinen Fall die Leistungsfähigkeit verschiedener Infrastrukturen. Die Auseinandersetzungen dazu sind an anderer Stelle zu Genüge geführt worden. Die Leistungsfähigkeit der Abstellanlage lassen Sie geflissentlich außer Acht, vergrößert sie doch beim vorliegenden Kopfbahnhof die Gesamtleistung, während sie bei Stuttgart 21 zusätzliche Trassen kostet.

Im heutigen Kopfbahnhof können 50 (bzw. mit geringfügigen Umbauten 56) Züge je Stunde abgefertigt werden bei guter Betriebsqualität, wie 2011 durch Untersuchung des Münchner Verkehrsbüros Vieregg & Rößler nachgewiesen und vom NVBW (AZ 3800.9-00 v. 21.11.2011) bestätigt wurde. Herr Hopfenzitz bescheinigt dem Kopfbahnhof eine Leistungsfähigkeit von 54 Zügen / h vor der Einrichtung der S-Bahn.

Hingegen ist der S21-Tiefbahnhof für nur gut 32 Züge je Stunde ausgelegt, wie sich aus dem Gutachten 1997 von Prof. Heimerl, Anlage 21-24 ergibt. Darin heißt es wörtlich: „…. kann der Bahnhof nur 38,8 – 6 = 32,8 also ~ 33 Züge / Stunde leisten.“ Diese „absolute Leistungsgrenze von Stuttgart 21 mit 32,8 Zügen“ hat auch der weitere Gutachter Schwanhäußer bestätigt. Die im Stresstest „nachgewiesenen“ 49 Züge / h basieren auf mehr als 40 Regelverletzungen und sind im realen Betrieb nicht fahrbar.

Allein schon daraus folgt, dass der im Bau befindliche und somit nicht mehr erweiterbare S21-Tiefbahnhof die angestrebte Verdoppelung der Fahrgastzahlen gar nicht wird bewältigen können, im Gegensatz zu dem nach dem Umstieg 21-Konzept modernisierten 17 gleisigen Kopfbahnhof, der dies für einen Bruchteil der S21-Baukosten ermöglicht.

Wie fadenscheinig erscheint in diesem Licht Ihre Begründung, dass es ja nicht um eine Verdopplung der Passagiere in der HVZ gehe sondern um eine Verdopplung über den ganzen Tag. Als ob man einen Mangel an Kapazität in der HVZ irgendwann am Tag schon werde ausgleichen können, eine abenteuerliche Schönfärbung.

Überdies weist das Brandschutzkonzept für den S21-Tiefbahnhof auch nur Evakuierungsmöglichkeiten für 4.041 Personen je Bahnsteig aus, entsprechend je einem vollbesetzten Doppelstockzug an jeder Bahnsteigkante. Die von Ihnen dargestellten Doppelbelegungen, wie sie zum Erreichen größerer Abfertigungsleistungen unabdingbar sind, scheiden damit aus. Allein schon aus Brandschutzgründen kann der künftige Stuttgarter Tiefbahnhof keinen Mehrverkehr aufnehmen; die angestrebte Verdoppelung der Fahrgastzahlen ist damit nicht erreichbar.

Stattdessen heben Sie hervor, dass zukünftig nahezu alle Regional-Linien durchgebunden werden sollen. Dies ist auch im heutigen Kopfbahnhof ohne weiteres möglich, mangels Bedarf bislang aber nur auf die meisten Fernverkehrs- und einige Metropol- und Nahverkehrslinien (z.B. KA – S – N und MA – S – Ulm) beschränkt.

Die meisten Leute sind in Stuttgart auf gute Umsteigemöglichkeiten angewiesen, die der 8 gleisige Tiefbahnhof aber nicht hergibt. Dadurch entstehen die kritisierten langen Wartezeiten beim Umsteigen, woran durchgebundene Züge nichts ändern. Die Durchbindungen sind nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass die Züge wegen der unzulässig hohen Bahnsteiggleisneigung von über 15 ‰ im S21-Tiefbahnhof nicht wenden können und folglich in Fahrtrichtung ausfahren müssen, unabhängig davon, ob ein Bedarf dafür besteht oder nicht.

Bemerkenswert und nicht weniger „einseitig, hochselektiv und teils schlicht falsch“, wie Sie dies dem SWR mit seiner Berichterstattung vorwerfen, ist Ihre am 16.7.2019 im S21-Ausschuss gezeigte Auswahl der durch das „Bahnprojekt Stuttgart-Ulm ermöglichten kürzeren Reisezeiten im Deutschland-Takt“. Die hier angeführten Verbindungen vergleichen einseitig die Reiszeiten zum bzw. über den Flughafen Stuttgart mit denen der Bestandstrecke und erwecken den Eindruck einer erheblichen Reisezeitersparnis durch Stuttgart 21. Doch die Reisezeit-Verkürzung Stuttgart–Ulm entsteht praktisch ausschließlich durch die Neubaustrecke, nicht durch S21 mit Führung über den Flughafen. Die nahezu gleiche Fahrzeit erhält man für Stuttgart-Ulm auch bei einer Streckenführung über Wendlingen - Plochingen durch das Neckartal, wie im Konzept „Umstieg 21“ gezeigt. Für Verbindungen Mannheim-Ulm, Bruchsal-Ulm und Heilbronn-Ulm über Stuttgart Hbf ergeben sich die Fahrzeitverkürzungen allein aus der Neubaustrecke. Insoweit sind diese Angaben eine irreführende Schönfärberei des Vorhabens Stuttgart 21.

Nicht weniger fragwürdig sind die angegebenen Reisezeit-Unterschiede bei den Verbindungen:

  • Vaihingen (Enz) – Stuttgart-Flughafen mit 0:24 Std/Min. zu 1:00 Std/Min.
  • Heidelberg - Stuttgart-Flughafen mit 0:45 Std/Min. zu 1:28 Std/Min.
  • Friedrichshafen - Stuttgart-Flughafen mit 1:32 Std/Min. zu 3:11 Std/Min.
  • Reutlingen - Stuttgart-Flughafen mit 0:24 Std/Min. zu 1:23 Std/Min.

Die bislang notwendige Anfahrt vom Hbf Stuttgart zum Flughafen mit der S-Bahn beträgt 27 + 10 Minuten für den Übergang im Hbf, zusammen also 37 Minuten plus Wartezeit auf die S-Bahn. Mit einer heute schon realisierbaren „Express-S-Bahn“ auf der Panorama-Bahnstrecke mit nur einem einzigen Zwischenhalt in Stuttgart-Vaihingen könnte man die Strecke zum Flughafen in 15 Minuten zurücklegen. Die heutige S-Bahn kommt gleich im Terminal an. Dagegen muss man vom künftig vorgesehenen Flughafen-Bahnhof „Station NBS“ aus 27 m Tiefe zusätzlich 300 m, also mindestens 10 Minuten Fußweg, teils mit schwerem Gepäck, zurücklegen. Die Reisezeiten für S21 verlängern sich also, die für den Kopfbahnhof verkürzen sich jeweils um gut 10 Minuten. (Die Reisezeitersparnisse Friedrichshafen – S-Flughafen haben mit Stuttgart 21 kaum etwas zu tun, eher sind sie Ausdruck einer bis heute verfehlten Ausbaupolitik für Bahninfrastruktur.)

Bedeutsamer ist aber die Frage, wer von den Reisenden überhaupt zum Flughafen Stuttgart will – das wird nur ein verschwindend kleiner Anteil sein; für den übergroßen Rest, der nur in die Landeshauptstadt will, ergeben sich mit Stuttgart 21 keine Reisezeit-Vorteile. Außerdem soll der Deutschland-Takt und die angestrebte Fahrgast-Verdoppelung auf der Schiene den Flugreiseverkehr verringern – weshalb da so einseitig mögliche Reisezeit-Verkürzungen zum Flughafen herausstellen?

Geradezu grotesk ist Ihre Behauptung, Stuttgart 21 erlaube „einen S-Bahn-ähnlichen Hochleistungsbetrieb“, bei dem „auf jedem Bahnsteiggleis ohne Weiteres alle fünf Minuten ein Zug fahren“ könne. Auf den großen überlasteten und stark verspätungsanfälligen Durchgangsbahnhöfen Hannover, Hamburg Hbf und Köln Hbf fahren 4,2 (Hamburg) bis 4,4 (Köln) Züge je Gleis und Stunde; d.h. ein Zug alle 14 bzw. 13,5 Minuten. 5 Minuten werden allein für das Ein- und Wiederausfahren, die Abfertigung und 1 Minute Pufferzeit benötigt – für das Aus- und Einsteigen der Fahrgäste verbliebe damit praktisch keine Zeit. Die bei S-Bahnen mögliche 2,5-Minuten-Folge beruht auf anderen Fahrzeugen und der Tatsache, dass hier der Fahrgastwechsel sehr viel schneller geht, weil S-Bahnen im Gegensatz zu Reisezugwagen alle 5 m eine viel breitere Doppeltür haben und die S-Bahn-Fahrgäste in der Regel kaum größeres Gepäck mitführen, wie dies in den Reisezügen üblich ist.

Erschwerend bei Stuttgart 21 kommt hinzu, dass in den S21-Tiefbahnhof wegen der zu hohen Gleisneigung (15 ‰) bei Doppelbelegung nur mit 20 km/h, schlimmstenfalls mit Schrittgeschwindigkeit eingefahren werden kann. Schon geringste Verspätungen lassen dann den Passagierwechsel ins Chaos laufen (Änderung der Zugreihenfolge, Umsteigebeziehungen, Laufwege).

Daran wird auch die Einführung von ETCS und Digitalisierung nicht viel ändern – diese können fehlende Bahnsteigkanten nicht ersetzen. Die damit erreichbare „Optimierung“ der Betriebsabläufe in nur bescheidenem Umfang hat u.a. Herr Hickmann / MVI in eben dieser Sitzung am 16.7.19 deutlich gemacht. Letztlich ist die Gründung einer Arbeitsgruppe zur Untersuchung eines Kombi-Bahnhofs in dieser Sitzung der mangelnden Leistungsfähigkeit des Verkehrsknoten Stuttgart im Rahmen des D(eutschland)-Taktes geschuldet.

Schließlich noch zu Ihrer Aussage: „auf jedem der acht Streckengleise [kann] im Schnitt alle zwei Minuten ein Zug fahren“. Wie wollen Sie bei einer derart hohen Zugfolge der Notwendigkeit Rechnung tragen, dass gemäß „Tunnelrichtlinie“ Ziff. 2.1 „ein Zug aus dem Tunnel herausrollen [können muss], auch wenn die Versorgung mit elektrischer Energie z.B. durch die Folgewirkung eines Brandes bereits unterbrochen ist.“ (Und bei hochfahrenden Zügen? Schlimmstenfalls muss für sie ein Gleis im Tiefbahnhof frei bleiben, bis sie den Fildertunnel nach mehr als 5 Minuten verlassen haben.) Es wird nur ein Zug im Tunnel sein dürfen, festgestellt wird das erst, wenn es darum geht, ein Betriebskonzept für den Bahnhof genehmigt zu bekommen. Damit stehen unverzichtbare Brandschutz-Anforderungen der angestrebten Verdoppelung des Fahrgast-Aufkommens im Tiefbahnhof Stuttgart 21 fundamental entgegen.

Haben Sie schon einmal daran gedacht, dass Sie Ihre Behauptungen der o.g. Schreiben auch beweisen müssten? Und was erwartet die Stuttgarter in 20 bis 30 Jahren, wenn Reparaturen der Gleis- und Tunnelinfrastruktur notwendig werden? Wir finden, die Stuttgarter und ihr Gemeinderat haben ein Recht darauf, zu erfahren, was sie dann erwartet.

Stuttgart 21 ist weder ausreichend leistungsfähig noch zukunftsfähig.

Freundliche Grüße

Dipl.-Ing. Hans Heydemann

Dipl.-Ing. Ulli Fetzer

Dipl.-Phys. Wolfgang Kuebart


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