Brief von Klaus Wößner an den DB-Konzernbevollmächtigten für Bad.-Württ., Herrn Thorsten Krenz (28.7.2019)

 Klaus Wößner, Stuttgart / 28.7.2019

Deutsche Bahn AG
Herrn Thorsten Krenz
Konzernbevollmächtigter Baden-Württemberg

Presselstraße 17
70191 Stuttgart

 Ihr Vortrag vor dem S21-Ausschuss des Gemeinderats Stuttgart am 16.07.2019

Sehr geehrter Herr Krenz,

Ihr Vortrag vor dem Stuttgart 21-Ausschuss des Stuttgarter Gemeinderats am 16. Juli 2019 darf nicht unwidersprochen bleiben. Der mir schriftlich vorliegende Text zu Ihrem Vortrag enthält leider viele nicht bewiesene oder nicht beweisbare Behauptungen und auch fehler­hafte Inhalte. Ich behalte mir vor, dieses Schreiben zur Information an weitere Adressaten zu geben.

Es ist nichts einzuwenden, wenn Sie sagen, das politische Ziel der Verdoppelung des Bahn­verkehrs ist auf den Betrieb über den ganzen Tag ausgerichtet. Aber dies darf nicht davon ablenken, dass die Spitzenverkehrszeit der Maßstab für die Beurteilung der Leistungsfähig­keit des Bahnverkehrs bleiben muss. Denn dort wird bis sehr weit in die Zukunft die höchste Nach­frage auftreten, und weder die Verkehrspolitik noch die Deutsche Bahn werden daran etwas ändern können.

Daher muss sich schon von der verkehrspolitischen Logik her das Augenmerk ganz beson­ders auf die – in sämtlichen Ballungszentren höchst problematische -- Spitzenverkehrszeit richten. Es ist positiv, wenn der Zielfahrplanentwurf des Deutschlandtakts im täglichen Grundangebot für den Bahnknoten Stuttgart 36,5 anstatt der heutigen ca. 24 Fern- und Regionalzüge vorsieht (zwar nicht zwei Drittel mehr, wie Sie sagen, aber immerhin gut die Hälfte). Dies löst jedoch noch kein einziges der drän­genden Probleme.

Unverständlicherweise stellen Sie den Kopfbahnhof falsch dar. Dieser leistete im Jahr 2011 und so gut wie unverändert bis heute in der Spitzenstunde zwischen 07:00 und 07:59 Uhr ca. 75 Ankünfte und Abfahrten. In älteren Fahrplanunterlagen der DB ist ferner nachzulesen, dass der Kopfbahnhof z. B. im Jahr 1970 werktags zwischen 06:39 und 07:38 Uhr sogar 46,5 Züge bewältigt hat. Daher sind die von Ihnen genannten zukünftigen 36,5 Züge oder 70 Ankünfte und Abfahrten pro Stunde gewiss nicht mehr, sondern weniger bis deutlich weniger als der Kopfbahnhof aktuell leistet und in der Vergangenheit geleistet hat. Wie lange muss man denn noch ertragen, dass in der vermeintlichen Vorteilsargumentation für Stuttgart 21 der Kopfbahn­hof einfach nur schlecht geredet wird?

Was Sie schließlich unter dem Stichwort Digitale Schiene Deutschland vortragen, ist beim allerbesten Willen nicht mehr zu fassen. Von hochtrabenden werblichen Worthülsen wie „hoch­leistungsfähige Infrastruktur mit smarter Technik“ fühlt man sich zunächst allenfalls veralbert. Wenn Sie aber dann sagen, auf jedem Bahnsteiggleis könne „ohne Weiteres alle fünf Minuten ein Zug fahren, auf jedem der acht daran anschließenden Streckengleise im Schnitt alle zwei Minuten“, endet jegliches Verständnis. Für die technisch und bahnbetrieb­lich außerordentlich heterogene Gesamtheit der Fern- und Regionalzüge heute einen „S-Bahn-ähnlichen Hochleis­tungsbetrieb“ zu prognostizieren, ist fachlich unhaltbar und wider­spricht bahnbetrieblichem Sachverstand auf ganzer Linie. Überdies ist eine derartige Prognose besonders kühn ange­sichts der Tatsache, dass z. B. ein Hochleistungsbetrieb für die Stuttgarter S-Bahn sich im Rahmen der Digi­talen Schiene Deutschland erst im sehr frühen Stadium eines Grobkonzepts befindet, konkrete Erfahrungen dort also noch in weiter Ferne liegen.

Hat die Deutsche Bahn vergessen, dass die Züge Menschen angenehm und komfortabel befördern sollen? Ist Ihnen klar, welche Menschenmassen sich auf einem Bahnsteig aufhal­ten und bewegen müssten, wenn an beiden Bahnsteigkanten zusammen pro Stunde 24 Züge des Fern- und des Regionalverkehrs ankommen und abfahren? Können Sie sich das Chaos und den Stress der Reisenden auf dem Bahnsteig vorstellen und die dadurch entste­hende drama­tische Verlängerung der Zughalte- und -abfertigungszeiten, besonders heftig wenn Züge mit Verspätung eintreffen? Und ist Ihnen klar, mit welcher Extrembelastung und welchen Sicher­heitsrisiken für das Fahr- und Begleitpersonal der Züge und für eventuelles Hilfspersonal auf dem Bahnsteig die von Ihnen vorgetragene Vorstellung verbunden wäre, wenn alle Züge nur noch eine Regelhaltezeit von ca. zwei Minuten zur Verfügung hätten?

Diese Darstellung einer hochrangigen Führungskraft der DB ist für die halbwegs fachkun­digen Zuhörer oder Leser fachlich ein beispielloser Affront. Die gutgläubigen, weniger kundigen wohlwollenden S21-Befürworter fühlen sich natürlich durch den überaus positiven Tenor zunächst vermeintlich bestätigt, werden de facto aber mit Verweisen auf unrealistische Zukunftslösungen regelrecht hinters Licht geführt.

Angesichts dieser furchtbaren Situation erwarte ich von Ihnen, die Grundlagen offen zu legen oder konkret auf sie zu verweisen, auf denen alle Ihre Darstellungen basieren. Wenn über­haupt, ist nur die Präsentation nach­prüfbarer Fakten und wirklich fundierter Konzepte geeig­net, die immer größer gewor­denen Zweifel in Grenzen zu halten, ob die Führung der Deutschen Bahn den anspruchs­vollen Aufgaben der Zukunft gewachsen ist.

Einen positiven Effekt hat Ihre Darstellung allerdings: Mit ihr haben Sie eindrucksvoll nachge­wiesen, dass die Initiative des Landesverkehrsministeriums, eine sachliche Diskussion über die Notwendigkeit zusätzlicher Maßnahmen zur Absicherung einer ausreichenden Kapazität für den Fern- und Regionalverkehr im Raum Stuttgart in die Wege zu leiten, mehr als notwen­dig ist. Und es ist zu fordern, dass die Deutsche Bahn sich konstruktiv daran beteiligt und zukünftig den Versuch unterlässt, mit derartigen Darstellungen hochnotwendige Initia­tiven gewissermaßen vom Tisch zu fegen.

Mit freundlichen Grüßen

Klaus Wößner
Mitwirkender in der Gruppe Ingenieure22