Rede von Dr. Carola Eckstein "Verkehrswende - autofrei nicht nur als Sonntagsevent" am 23.9.2018 anlässlich des autofreien Tags auf der B14

Rede von Dr. Carola Eckstein zum autofreien Tag am 23.9.2018 auf der B14 in Stuttgart

Verkehrswende – autofrei nicht nur als Sonntagsevent

Ich beginne mit einem Beitrag für Nostalgiker: Vor rund 200 Jahren haben Dampfloks den Radius unserer Mobilität enorm vergrößert. Im Handling, wie wir heute sagen würden, ließ die gute alte Dampflok allerdings zu wünschen übrig. U.a. konnten Dampfzüge nicht rückwärts fahren, weswegen es mit einigem Aufwand verbunden war, einen Kopfbahnhof anzufahren und ihn wieder zu verlassen.

Vor etlichen Jahrzehnten haben geschickte Ingenieure das Problem elegant und effizient gelöst: Moderne Züge haben Steuerwagen und können problemlos vor- und zurückfahren; der Richtungswechsel dauert ungefähr so lange, wie der Lokführer braucht, um seine Jacke an den Haken im anderen Führerstand zu hängen. Nur im Kopf unserer Politiker besteht das Dampflokproblem offenbar fort: Nur so ist zu erklären, dass uns immer wieder die große Effizienzsteigerung durch den Durchgangsbahnhof Stuttgart 21 angepriesen wird.

S21 ist sicher ein Extrembeispiel, aber es ist symptomatisch für eine Verkehrspolitik und eine Industrie, die viel Geld, Aufwand und Energie darauf verwenden, Probleme zu lösen, die wir gar nicht haben, bzw. sehr einfach vermeiden könnten. Vor wirklich zeitgemäßen und relevanten Problemlösungen scheuen die Akteure hingegen zurück.

Um uns einer solchen zeitgemäßen und sinnvollen Problemlösung zu nähern, müssen wir zuerst und vor allem klären, was unsere Ziele und was die tatsächlichen Probleme sind:

Menschen und Waren wollen oder müssen von A nach B gelangen, bequem, schnell und effizient. Und dieser Bedarf, schnell und bequem von A nach B zu gelangen, besteht nicht nur für gesunde 35-jährige mit Aktentäschchen, sondern auch für kleine Kinder, alte Menschen und generell Leute, die von Natur aus wenig mobil sind.

Die aktuell größten Probleme haben wir nicht damit, überhaupt von A nach B zu kommen, sondern mit der Einhaltung der Rahmenbedingungen:

Feinstaub und Stickoxide in der Luft schaden uns, selbiges gilt für Verkehrslärm. Vor allem in Städten ist Platz ein knappes Gut, das der Autoverkehr im Übermaß beansprucht. Und schließlich das vermutlich größte Problem: Der CO2-Ausstoß. Der Verkehr ist mit 32% der größte CO2-Emittent in Baden-Württemberg; Er verbraucht absolut unverhältnismäßig viel Energie!

Letzteres ist nicht überraschend, wenn man sich den durchschnittlichen Verkehrsteilnehmer vor Augen führt: Ein Pendler, etwa 80kg schwer mit vielleicht 5kg Laptop und Vesperbrot als Gepäck – umgeben von 1 bis 2 Tonnen Auto, mit dem unser nicht übermäßig dicke Durchschnittspendler etwa 8m² Fläche braucht. Das kann nicht effizient sein!

Angesichts dieses Missverhältnisses zwischen eigentlichem Transportbedarf und tatsächlich bewegter Masse ist klar: Keine noch so ausgetüftelte Optimierung des Motors kann nennenswert dazu beitragen, das eklatante Effizienzproblem im Verkehrssektor zu lösen. Der super-saubere und effiziente Dieselmotor kann nicht dafür sorgen, dass wir den Platz- und Energiebedarf unserer Mobilität in den Griff bekommen und es hilf auch nicht, zusätzliche 300kg Batterie und den Publikumsliebling E-Motor an Bord zu nehmen.

Mit weitaus mehr wissenschaftlichem Tiefgang kommt auch die aktuelle Studie ‚Mobiles Baden-Württemberg‘ zum Ergebnis, ich zitiere: ‚… dass allein der Umstieg auf Elektrofahrzeuge […] bei Weitem nicht ausreicht, um ökologisch nachhaltig mobil zu sein.‘

Ich verkneife mir nun viele technische Details, die alle miteinander eines besagen: Das, woran so viele mit viel Aufwand arbeiten, worüber unsere Politiker so viel und gerne reden, hat mit der Mobilität 4.0, mit dem echten, grundlegenden System-, Struktur- und Generationenwechsel, den wir dringend bräuchten, nicht viel zu tun. Allen voran die viel gepriesene Elektromobilität läuft immer wieder auf Mobilität 0.4 heraus: ein Herumdoktern und Nachbessern an einem System, das unübersehbar an seine Grenzen stößt. Das sind Lösungen für Probleme aus dem Dampflokzeitalter, für eine nachhaltige Verkehrswende reicht dies alles nicht.

Für eine nachhaltige Verkehrswende brauchen wir ein echtes, entschiedenes und mutiges Umdenken in folgenden drei Punkten:

  1. Verkehrspolitik im 21. Jahrhundert muss endlich in Netzen denken. Und damit sind nicht Handys und Wlan-Netze gemeint, sondern Schienennetze, Vertaktung und die geschickte Verbindung verschiedenster Verkehrsträger. Lösungen wie der integrale Taktverkehr sind in der Literatur reiflich beschrieben und vielerorts gut erprobt – jetzt müssen sie endlich auch zur Messlatte der Infrastrukturplanung werden, damit uns so aus der Zeit gefallene Dinosaurier wie Stuttgart 21 nicht weiter den Weg in die mobile Zukunft versperren.
  2. Wir brauchen ein Bewusstsein, dass Verkehrspolitik angebotsorientiert ist: Wenn ich auf guten, bequemen Wegen schnell zur nächsten Haltestelle komme, wenn ich all meine Ziele bequem, schnell und vor allem zuverlässig zu Fuß, mit dem Rad oder mit Bus und Bahn erreiche, wenn Umsteigen barrierefrei und ohne große Wartezeiten funktioniert, dann freue ich mich über den Busfahrer, der mir und meinem Kinderwagen im Bedarfsfall beim Einstiegen hilft. Wenn das öffentliche Verkehrsangebot passt, habe ich keinerlei Bedarf für ein selbstfahrendes Auto und noch weniger Motivation, darüber nachzudenken, in wievielen Sekunden ich die Kontrolle über das Gefährt übernehmen könnte – und ob diese Zeit davon abhängt, ob wir entspannt Bilderbücher anschauen, oder ob das Kind brüllt, weil es sich gerade irgendwo gestoßen hat. Mein Ziel ist nicht die ein oder andere technische Lösung, mein Ziel ist es, bequem und effizient zur Arbeit, zum Einkaufen und zur Demo zu kommen. Und es ist mein Ziel, dass mein Kind in den Kindergarten kommt, vorzugsweise ohne meine Begleitung, so wie ich vor gut vierzig Jahren stolz alleine in den Kindergarten marschieren, später radeln konnte. Ein gutes Mobilitätsangebot wird genutzt – wenn es das nicht gibt, muss ich mich notgedrungen anders fortbewegen.
  3. Schließlich brauchen wir Flächengerechtigkeit: Im Vergleich zum 8m²-Pendlerauto brauchen Fußgänger und Radfahrer sehr wenig Platz, genauso wie die Nutzer von Bussen und Bahnen – Aber sie brauchen Platz! Wenn Busse im Stau stehen, können sie nicht zuverlässig und pünktlich fahren. Fahrradfahrer und Fußgänger brauchen durchgehende und sichere Wege, ohne Ampeln, die die 300 Meter vom Rathaus zur Leonhardskirche 10 Minuten dauern lassen. Studien zeigen eindeutig, dass Radfahrer und Fußgänger umso sicherer unterwegs sind, je mehr Platz sie in einer Stadt zur Verfügung haben. Und zahlreiche Beispiele zeigen, dass die meisten Menschen sich gerne gesund und umweltfreundlich zu Fuß oder mit dem Rad fortbewegen, wenn denn die vorhandene Infrastruktur dazu angetan ist, wenn das Angebot also stimmt. Leider billigt die aktuelle Infrastrukturplanung Autos den weitaus meisten Platz zu, weil diese sich besonders breit machen und den vorhandenen Platz am ineffizientesten nutzen. Die Forderungen des Radentscheid Stuttgart weisen hier in die richtige Richtung. (Unterschreiben, falls noch nicht geschehen!)

Zum Schluss möchte ich noch auf einen ganz anderen Aspekt der anstehende Verkehrswende eingehen: Im Jahr 1961 forderte Willy Brandt:

„Erschreckende Untersuchungsergebnisse zeigen, dass im Zusammenhang mit der Verschmutzung von Luft und Wasser eine Zunahme von Leukämie, Krebs, Rachitis und Blutbildveränderungen sogar schon bei Kindern festzustellen ist. Es ist bestürzend, dass diese Gemeinschaftsaufgabe, bei der es um die Gesundheit von Millionen Menschen geht, bisher fast völlig vernachlässigt wurde. Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden!“

Er forderte, dass die qualmenden Schornsteine, der Inbegriff des Wirtschaftswunders, Rücksicht nehmen sollten auf Gesundheit und Umwelt; dass die Gemeinschaftsaufgabe ‚Gesundheitsvorsorge‘ nicht weiterhin hinter wirtschaftliche Interessen zurückgestellt werden darf. Ich habe die Zeit nicht erlebt, aber es heißt, er wurde dafür belächelt, um nicht zu sagen, ausgelacht.

Heute, mehr als 50 Jahre später, kann man feststellen: Die Forderung von Willy Brandt war nicht nur mutig, sie war auch weise, weitsichtig und vor allem erfolgreich. Was mir an dieser Stelle besonders wichtig ist, ist aber nicht der blaue Himmel. Es ist die Beobachtung, dass eben diese Forderung nicht nur ökologisch und sozial, sondern letztlich auch wirtschaftlich erfolgreich war! Die mutige, vielleicht sogar verwegene Forderung, dass auch die heiligen Kühe des Wirtschaftswunders, die qualmenden Schornsteine, die scheinbar unantastbaren Leistungsträger, sich allgemein-gesellschaftlichen Anforderungen wie Gesundheitsvorsorge und Umweltschutz unterordnen müssen, hat letztlich auch der Wirtschaft geholfen:

In den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts waren das Ruhrgebiet und die Gegend rund um Charleroi in Belgien sehr vergleichbare, sehr ähnlich strukturierte Kohlereviere – nur dass die Wallonie keinen mutigen und weitsichtigen Politiker hatte, der den Qualm aus den Schornsteinen an den Pranger stellte.

Viel später habe ich einige Zeit in Belgien gelebt und habe die Misere der Wallonie, Charleroi als Sinnbild des Niedergangs erlebt; Vom Mai diesen Jahres, Mai 2018!, stammt die „Erfolgsmeldung“, die Arbeitslosigkeit in Charleroi und Umgebung sei nun erstmalig flächendeckend unter 20% gesunken. Die Schonung des Drecks und Qualms hat in genau die soziale Katastrophe geführt, die man verhindern wollte, als man von Auflagen für die wirtschaftlich erfolgreichen, qualmenden Schornsteine absah. Umgekehrt: Die frühe Forderung, dass auch das Idol des Wirtschaftswunders die Bedürfnisse von Menschen und Umwelt respektieren und schonen müsse, hat im Nachhinein betrachtet die nötigen Impulse und Anstöße zur Weiterentwicklung gegeben, die dem Ruhrgebiet nicht alle Probleme des Wandels, aber immerhin den ganz großen Niedergang erspart haben.

Das Tabuthema und Idol unserer heutigen Zeit ist nicht mehr der qualmende Schornstein, sondern das Auto und die sogenannte Individualmobilität (diese Bezeichnung kann man nur wählen, wenn man die allgegenwärtigen Staus komplett ignoriert) einerseits, vermeintlich prestigeträchtige Bahnprojekte andererseits. Wir haben es nicht mehr mit schwarz-gelbem Dreck zu tun, sondern mit offensichtlichen Platzproblemen, unsichtbarem Feinstaub, Stickoxid und CO2. Aber wenn Baden-Württemberg, wie es in der oben zitierten Studie heißt, einmal mehr die Chance bekommen soll, ‚weltweit Anstoß und Vorbild für moderne Mobilität zu sein‘, wenn wir nicht nur kurz- und mittelfristig wirtschaftlich erfolgreich sein wollen, dann brauchen wir mutige und weitsichtige Politiker, die die Bedürfnisse von Menschen, Klima und Umwelt vorne anstellen und auch die heiligen Kühe unseres aktuellen wirtschaftlichen Erfolgs nicht schonen.

Und wir brauchen viele engagierte Bürger, die für Umstieg 21 und eine zeitgemäße Verkehrsinfrastruktur auf die Straße gehen, z.B. nächsten Samstag, den 29. September um 14 Uhr vor dem Bahnhof.

Oben bleiben!