Rede von Dr. Christoph Engelhardt „Hurra – wir eröffnen die gefährlichsten Doppelröhrentunnel der Welt!“, 635. Montagsdemo 07.11.2022

„Hurra – wir eröffnen die gefährlichsten Doppelröhrentunnel der Welt!“

Rede von Dr. Christoph Engelhardt auf der 635. Montagsdemo am 07.11.2022

RedemanuskriptDr. Christoph Engelhardt

Liebe Mitstreiterinnen, liebe Mitstreiter!

„Hurra – wir eröffnen die gefährlichsten Doppelröhrentunnel der Welt!“ Am 11. Dezember wird die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm eröffnet. Ein trauriger Meilenstein in dem Wettbewerb um das dümmste Bundesland in Deutschland.

Wir in Baden-Württemberg, wir können alles – alles außer Hochdeutsch! Wir sind „THE LÄND“, der „führende Standort für Technologie und Innovation“! Wir sind das „Land der Denker und Macher“! Und wir bauen nicht irgendwelche Tunnel – sondern wenn schon, denn schon – die gefährlichsten Doppelröhrentunnel der Welt! Halbwegs sichere Tunnel sind was für Weicheier – wer weder Tod noch Teufel fürchtet steigt in die Geisterbahn Wendlingen-Ulm.

Mit den Stuttgart 21-Tunneln werden wir später den Grusel noch beträchtlich steigern! In deren verengtem Querschnitt breitet sich der Rauch noch schneller aus und über deren enge Rettungswege kommen die Menschen kaum aus der Gefahrenzone. Für diesen maximalen Tunnel-Horror müssen wir uns aber leider noch ein paar Jährchen gedulden.

Ab Dezember bekommen wir schon einmal einen Vorgeschmack. 30 km Tunnelrisiko vom Allerfeinsten. Die Tunnel der Neubaustrecke übersteigen in den Gefahren bei Brand alles, was bisher an Doppelröhrentunneln gebaut wurde. Wie gesagt, sie sind nicht so eng wie die S21-Tunnel. Der Querschnitt liegt durchaus im üblichen Rahmen. Aber mit der hohen Personenkapazität der Regionalzüge verdoppelt sich hier das Risiko gegenüber anderen Tunneln, in denen nur Fernverkehrszüge unterwegs sind. Außerdem wird in den neuen Tunneln zugelassen, dass Einbauten den Rettungsweg um 30 cm einengen.

Und im Albabstiegstunnel kommt noch ein Faktor hinzu, hier verlaufen die Gleise über weite Strecken in der Mitte des Tunnels, so dass für den Rettungsweg nur rund anderthalb Meter bleiben, im Bereich der Einbauten. In den S21-Tunneln sind es dort sogar nur noch 90 Zentimeter. Und ein Rettungsweg ist nur so gut wie seine engste Stelle.

Bisher hatten wir das Risiko der Doppelröhrentunnel anhand der sicherheitsrelevanten Parameter verglichen. Neu ist jetzt eine systematische „makroskopische“ Evakuierungsrechnung nach den Vorgaben des vfdb-Leitfadens von der Vereinigung zur Förderung des Deutschen Brandschutzes. Wir haben dabei für alle Tunnel eine Evakuierung für 16 verschiedene Szenarien, d.h. verschiedene Brandorte und Positionen des Zuges gegenüber den Rettungsstollen, gerechnet. Die verwendete vfdb-Methode wird für Tunnel und Bahnhöfe ausdrücklich empfohlen. Eine nur graduell unterschiedliche US-Variante ist der Standard für U-Bahnen.

Hier werden nun in Sekundenschnelle tausende Evakuierungen berechnet. Mitberechnet wird insbesondere auch ein Schnappschuss zu dem Zeitpunkt, zu dem sich der Rauch auf die Fliehenden absenkt. Ab diesem Zeitpunkt würden Menschen sterben. Daraus ergibt sich ein Todesrisiko für die Reisenden. Auch für die Rauchausbreitung kann man dabei unterschiedliche Annahmen machen. Aber egal wie stark man die Verrauchung verzögert, die Tunnel von Stuttgart 21 und der Neubaustrecke bleiben weltweit die gefährlichsten mit dem höchsten Todesrisiko.

Die Bahn kennt immerhin eine allgemeine Evakuierungszielzeit, die auch für Tunnel gilt, von 15 Minuten. Nur selbst in dieser Zeit schafft es auf der Neubaustrecke im Mittel jeder Siebte nicht, sich zu retten. Im Albabstiegstunnel sogar jeder Vierte nicht und bei S21 kommt sogar jeder zweite zu Tode. Die Bahn übergeht also bisher, dass enge und steile Tunnel schneller verrauchen. In internationalen Fachartikeln werden viel kürzere Verrauchungszeiten von 5 bis 8 Minuten angegeben. Und auch bei dem Brand bei Montabaur sah man schon 4 Minuten nach dem Halt des Zuges einen Vollbrand. In den S21- und NBS- Tunneln kommt noch die exorbitante Steigung hinzu, per Ausnahme- genehmigung verdoppelt, beschleunigt sie die Verrauchung um rund 1/4. Aber wie gesagt, selbst bei einer dreifach verlängerten Verrauchungszeit fallen unsere Tunnelneubauten immer noch durch.

Aber wie konnten diese Tunnel genehmigt und gebaut werden? Wir haben doch Richtlinien und Genehmigungsverfahren? – Nun, bei den „Magistralen-Projekten“ wurden einfach beide Augen zugedrückt:

Das Rettungskonzept bestand hier schlicht aus der Existenz einer zweiten Röhre. Außerdem wurden die Mindestanforderungen für Rettungswege und Rettungsstollenabstand eingehalten. Die Existenz solcher Mindestanforderungen stellt aber klar, dass es Gründe geben kann, darüber hinauszugehen. Und die Richtlinien geben dafür den Maßstab unmissverständlich vor: Es muss mit der Planung ein funktionierendes Rettungskonzept vorgelegt werden, das eine Selbstrettung der Fahrgäste im Katastrophenfall „gewährleistet“, inklusive der „notwendigen Maßnahmen“.

Es hat also buchstäblich niemand im Genehmigungsverfahren eins und eins zusammengezählt. Bei Tunneln – bei denen die Reisendenzahl doppelt so hoch wie üblich ist, die Steigung per Ausnahmegenehmigung verdoppelt wurde, wo bei den S21-Tunneln auch noch der Querschnitt drastisch verengt wurde – kam niemand auf die Idee, zu prüfen, ob die Selbstrettung noch funktioniert und ob man nicht über die Mindestanforderungen bei dem Abstand der Rettungsstollen und der Breite der Rettungswege hinausgehen muss?

Wenn wir die Bahn, das Eisenbahn-Bundesamt (kurz EBA) oder die Bundesregierung darauf hinwiesen, dass in der Genehmigung dieser entscheidende Nachweis fehlt, bekamen wir schlicht die Antwort: „Aber die Tunnel wurden doch genehmigt“!
Man verschließt einfach beide Augen vor der Realität.

Eine Realität, in die man nun Menschen hineinfahren lässt, in ein Risiko, das Faktoren über dem vergleichbarer internationaler Tunnel liegt. Andernorts werden Milliarden an Mehrkosten investiert, um ein besseres Sicherheitsniveau zu erreichen – eben weil man geprüft hat, was mindestens für eine funktionierende Selbstrettung nötig ist.

Aber wie ist das möglich? – Nun, bei uns sind Behörden und sogar Gerichte nicht unabhängig, sie werden an ihrer Spitze politisch besetzt. Und der politische Druck war bei den Magistralenprojekten einfach riesig, anfangs aus Großmannssucht, dann hatte Bundeskanzlerin Merkel die Zukunftsfähigkeit Deutschlands von der blinden Umsetzung der Projekte abhängig gemacht, dann aus Koalitionsraison, dann zur Gesichtswahrung.
Jetzt haben wir den Salat. Und wir verstehen nur zu gut, warum alles um die Rettungsübungen in den Tunneln geheim gehalten werden muss, wie wir es in der Nürtinger Zeitung lesen konnten.

Ich kann nur jedem Bahnfahrer raten: Meiden sie die Tunnel, nehmen sie die Geislinger Steige – und meiden sie nach S21-Eröffnung die Passage des Hauptbahnhofs!

Wir bauen ja nicht nur die gefährlichsten Tunnel der Welt, wir sind auch die einzigen, die 30 km Tunnelstrecke bauen, um 160 m höher als bisher ein Mittelgebirge zu queren. Wir sind auch die einzigen, die einen pünktlichen hochleistungs- und ausbaufähigen Bahnhof ersetzen wollen durch einen tiefer gelegten Bahnhof, der durch nochmal rund 30 km Tunnelstrecke durch die schwierigste Geologie und unter einer Großstadt Abermilliarden teuer wieder an das Schienennetz angeschlossen werden muss. Wir sind auch die einzigen weltweit, die dabei die Zahl der Bahnsteiggleise halbieren, in der Hoffnung, die Leistung des Bahnhofs zu verdoppeln. Und als wir merken, dass das nicht aufgeht, nehmen wir nochmal einige Milliarden in die Hand, um zusätzlich 47 km Tunnelröhren zu bauen – die aber kein Bahnsteiggleis zusätzlich liefern! Wir sind wie die Schildbürger, die das Rathaus ohne Fenster gebaut hatten und dann das Licht in Säcken hereintragen wollten.

Wir bauen fast 90 km Tunnelstrecke, um einen blöden Bahnhof anzuschließen! Das französische TGV-Netz mit ca. 2700 km Gesamtlänge hat gerade einmal 25 km Tunnel, der gesamte US-Passagier- Bahnverkehr hat 50 km Tunnel.

Wir sind „THE LÄND“ und wir können alles. Und wir können davon auch noch mehr im Tiefbahnhof: Im Brandfall können wir dort gerade mal einen Zug pro Bahnsteiggleis rechtzeitig evakuieren, lassen aber meistens gleich zwei Züge hintereinander mit doppelt so vielen Leuten halten. Wir können das! Die Engpässe auf den Bahnsteigen sind so schmal wie sie am Bahnsteigende in Hintertupfingen sein dürfen. Das genügt dann natürlich auch in der Mitte der Bahnsteige mit einem der höchsten Fahrgastwechsel in Deutschland. Wir können das! Das EBA sagt, dass man wegen des Hochwasserrisikos auf keinen Fall eine Barriere im Schlossgarten bauen darf, und genehmigt mit dem Bahnhofsdach aber einen 6 m hohen Wall, der den oberflächlichen Ablauf auf eine „Rinne“ verengt. Und die Stadt weiß dazu ganz schlau, wenn man alle Sicherheitsreserven wegnimmt, dann steigt das Risiko dennoch nicht. Wir können wirklich alles! Diese Liste ließe sich noch lange fortsetzen.

Es ist nicht zu fassen, in München und in Frankfurt hatten die 21er-Projekte nicht einen Bruchteil dieser Risiken und dieses Aufwands und sie wurden doch wegen der Kosten gestoppt. Aber hier in Stuttgart können wir eben noch viel mehr! Was müssen wir noch tun, welche Milliarden noch in den Sand setzen, um der Welt endlich ein für alle Mal zu beweisen, dass wir das wahre und reale Schilda sind. Und es sind nicht nur die Stuttgarter die wahren Schildbürger, nein, es ist das ganze „THE LÄND“.

Und bevor ihr uns nun offiziell den Titel für das dümmste Bundesland gebt, wollen wir doch lieber Oben Bleiben.

Vielen Dank!