2018 kommt das Abenteuer am „Wolframpass“ – für 10 Jahre + x?

Berichte in der Stuttgarter Zeitung vom 7. und 8. September 2017, überschrieben mit „Stadt und Bahn streiten über S-21-Pläne“, haben uns veranlasst, das Thema „Stuttgart 21 und die Wolframstraße“ erneut aufzugreifen. 

Streitgegenstand zwischen Stadt Stuttgart und Eisenbahnbundesamt (EBA)

In Stuttgart wurde man anscheinend so sehr an Belastungen, Verkehrsbehinderungen und Umleitungen durch Stuttgart 21 gewöhnt, dass selbst abenteuerliche Umbauplanungen kaum mehr öffentliche Beachtung fanden. Jetzt aber wurde die Stadtverwaltung durch die mittlerweile genehmigte 25. Planänderung des S21-Bauabschnitts 1.5 aufgeschreckt, konkret durch die Planung für die durch S21 bedingte Umleitung der Wolframstraße im Stile einer Alpenpassststraße (siehe nachfolgende Abbildung), und hat beim Verwaltungsgericht Klage gegen das EBA eingereicht.

Quelle: Printausgabe Stuttgarter Zeitung vom 8.9.2017 - „Stadt und Bahn streiten über S-21-Pläne“Quelle: Printausgabe Stuttgarter Zeitung vom 8.9.2017 - „Stadt und Bahn streiten über S-21-Pläne“

Aber man nimmt keineswegs an der abenteuerlichen Planung selbst Anstoß, sondern daran, dass aus der Sicht des EBA die Wiederherstellung des vorherigen Zustands nach Baufertigstellung nicht von der Deutschen Bahn, sondern von der Stadt Stuttgart selbst zu bezahlen sei. Gemessen am Gesamtaufwand der Stadt für S21 geht es allerdings um einen verschwindend geringen Betrag.

Die Stadtverwaltung hat in der zu Schusters Zeiten herrschenden S21-Euphorie im Jahr 2006 den Planfeststellungsbeschluss für PFA 1.5 wohl gar nicht gelesen. Denn zur Wolframstraße stand schon im damaligen Beschluss: „Eine Wiederherstellung des vor der Baumaßnahme herrschenden Zustands (der Wolframstraße) wird daher nicht möglich sein“. Die Planung und der Bau "des endgültigen Verlaufs der Wolframstraße fällt ... in die Kompetenz der Landeshauptstadt Stuttgart". Darauf beruft sich die Bahn heute und meint, sie könne die abenteuerlichen Umfahrungsschleifen für die Wolframstraße während der Bauzeit des neuen S-Bahntunnels von und nach Mittnachtstraße anlegen und sich nach dem Bau davonmachen und müsse nichts wiederherstellen.

Die Begründungen der Bahn und des EBA sind recht merkwürdig: Weil die Stadt damals bereits eine städtebauliche Entwurfsplanung für die zukünftige Wolframstraße gehabt habe, brauche die Bahn nichts zurückzubauen. Sie könne die für den Umbau vorgenommene Verschwenkung der Fahrbahnen der Wolframstraße belassen, da dies den Anschluss an die Infrastruktur sicherstelle. Und das könne dann so bleiben, bis die Stadt Stuttgart eine konkrete Umplanung für die Wolframstraße erstellt und umsetzt. Das klingt zunächst so, als ob die städtebauliche Entwurfsplanung auch eine Umplanungspflicht bedeutet hätte, durch deren Missachtung die Stadt die Rückbauleistung und -finanzierung der Bahn verwirkt hätte.

In der Heilbronner Straße verursachte der S21-Bau auch Verschwenkungen. Dort sei es laut Eisenbahnbundesamt aber anders: "Dass die Heilbronner Straße in alter Lage wiederherzustellen gewesen sei, sei eine Selbstverständlichkeit. Dort habe die Stadt Stuttgart zu keinem Zeitpunkt geltend gemacht es gebe keine eigene Verkehrskonzeption, diese müsse erst noch entwickelt werden." Kann man aus dieser nur schwer verständlichen Formulierung für die Wolframstraße etwa Folgendes schließen: Hätte damals die Stadt Stuttgart gesagt, sie habe (noch) keine Verkehrskonzeption zur Wolframstraße, müsste dann die Bahn den vorherigen Zustand (so gut wie möglich) wieder herstellen? Dieser Punkt ist klärungsbedürftig.

Seit etwa 20 Jahren gibt es planerische Entwürfe, die Wolframstraße abschnittweise sogar bis auf 8 Fahrstreifen auszubauen. Einen derartigen, bisher nur angedachten Ausbau wird man von der Bahn sicherlich nicht vollständig bezahlt bekommen, wohl aber kann man eine angemessene Mitfinanzierung in Höhe denkbarer Kosten für einen dem Status quo nahe kommenden Zielzustand zu erstreiten versuchen. Dies soll die Stadt bitte aber auch tun, weil man es der Bahn keinesfalls durchgehen lassen kann, zuerst im Rahmen einer ohnehin abenteuerlichen Planung eine ebenso abenteuerliche Umfahrung im Stile einer Alpenpassstraße zu basteln und hinterher alles liegen zu lassen und davonzulaufen. Und wenn gestritten wird, bitte in den Verhandlungen nicht gleich einknicken wie beim PFA 1.3, wo man allzu eilfertig meinte, mit einem Kompromiss ("Drittes Gleis") und im Wesentlichen auf eigene Kosten eine planerische Frechheit der Bahn aus der Welt schaffen zu müssen. Da heißt es Hinstehen und, wenn der VGH zu S21- oder bahnfreundlich entscheidet, eben in die Revision zum Bundesverwaltungsgericht nach Leipzig zu gehen.

Bauliche und verkehrliche Auswirkungen

Viel wichtiger als die juristische Seite ist es uns jedoch, den Blick etwas genauer auf die „Wolfram-Passstraße“ selbst und deren verkehrliche Auswirkung zu richten:

Stand heute verläuft die S-Bahn-Stammstrecke bis kurz nach der Station Hauptbahnhof (tief) im Tunnel und wird dann über Rampen auf das Gleisvorfeld geführt. Dort teilt sie sich in die Strecken nach Bad Cannstatt und Feuerbach auf. Zukünftig soll die Stammstrecke im Tunnel bis zur zusätzlichen, derzeit im Bau befindlichen Station Mittnachtstraße verlängert werden und sich erst nach dieser Station in die Strecken nach Bad Cannstatt und Feuerbach aufteilen. Nachfolgend ein Blick von der Dachterrasse der Stadtbibliothek in Richtung Wolframstraße und Gleisvorfeld.

Blick von der Dachterrasse der Stadtbibliothek in Richtung Wolframstraße und Gleisvorfeld

Am linken Rand die neue U12-Stadtbahnbrücke, in der unteren Bildhälfte die S21-Baulogistikstraße auf einer separaten Brücke und darüber das Gleisvorfeld. Der neue Tunnel zur Mittnachtstraße wird im Bereich der Wolframstraße mit seiner Oberkante ca. 2,80 Meter über dem heutigen Straßenniveau liegen. Dies wäre eine unüberwindbare Sperre und verlangt eine Umfahrung. Diese muss eingerichtet werden, solange das Gleisvorfeld und sämtliche die Wolframstraße überspannenden Brücken noch vollständig in Betrieb sind, und gestaltet sich daher äußerst schwierig.

Wir haben dazu bereits am 20.3.2013 und 23.3.2013 zwei Veranstaltungen mit verkehrspolitischen Exkursionen zum Ort des Geschehens durchgeführt, für die sich sowohl die Lokalpresse als auch die Stadtverwaltung und die Gemeinde- und Bezirksbeiräte kaum interessiert hatten.  Fotoserie dazu

Die beiden nachfolgenden Bilder zeigen die Brücke mit der S21-Baulogistikstraße, oben mit Blick nach Süden, unten mit Blick nach Norden.

Brücke über die Baulogistikstraße mit Blick nach Süden

Brücke über die Baulogistikstraße mit Blick nach Norden

Der neue S-Bahntunnel wird zu einem großen Teil unmittelbar unter dieser Brücke liegen. Auf dem unteren Bild sind die von uns damals an der an der gegenüberliegenden Wand unter der Brücke und links davon eingezeichneten weißen Markierungen für die zukünftige Position und Höhe des Tunnels heute noch gut sichtbar und lassen selbst den Laien die äußerst beengten Verhältnisse sofort erkennen.

Für die Umfahrung muss die von der Cannstatter Straße kommende Fahrbahn in einem extrem scharfen Rechtsknick zwischen den beiden Brückenbögen (siehe unteres Bild rechts) geführt werden, bis auf die Höhe des Tunnels ansteigen, diesen in scharfer Kurve überqueren, vor der Stadtbahnbrücke wieder absteigen und in die bestehende Wolframstraße einschwenken.

Auf der gegenüber liegenden Seite sieht es nicht wesentlich anders aus: Auch dort kann man nur die zwischen beiden Brückenbögen (siehe oberes Bild rechts) sichtbare Lücke zur Umfahrung nutzen. Die von der Heilbronner Straße / Nordbahnhofstraße kommende Fahrbahn schwenkt bereits unter der Stadtbahnbrücke in nicht ganz so scharfer Kurve nach rechts ab, überquert in Linkskurve den neuen Tunnel, um dann nach einer Abwärtsrampe durch diese schmale Lücke mit einem ebenfalls scharfen Rechtsknick wieder in die heutige Fahrbahn einzuschwenken.

Zur Verdeutlichung nochmals die bereits oben gezeigte Abbildung:

Quelle: Printausgabe Stuttgarter Zeitung vom 8.9.2017 - „Stadt und Bahn streiten über S-21-Pläne“ Quelle: Printausgabe Stuttgarter Zeitung vom 8.9.2017 - „Stadt und Bahn streiten über S-21-Pläne“

Die Verhältnisse sind so beengt, dass beide Richtungsfahrbahnen der Passstraße nur einspurig angelegt werden können. Die südwestlich gelegene Fahrbahn von der Heilbronner Straße kommend Richtung Cannstatter Straße lässt noch etwas Platz für einen Rad- und Fußweg, aber ausgerechnet auf der Seite, wo heute kaum jemand fährt oder läuft.

Der Bau des Tunnels über die jetzige Wolframstraße hinweg erfordert zwingend den Abbruch der Brücke mit der Baulogistikstraße, so dass der Baustellenverkehr an dieser Stelle auf öffentliche Straßen ausweichen und teilweise ebenfalls die Passstraße benutzen muss. Nach diesem Abbruch sollen sofort die umgeleiteten Richtungsfahrbahnen der Wolframstraße beidseits über den neuen Tunnel hinweg geführt werden. Man fragt sich, wann die Abschnitte des neuen S-Bahntunnels gebaut werden sollen, die sich südwestlich und nordöstlich der Wolframstraße unter der Brücke mit der Baulogistikstraße befinden?

Und selbst wenn diese Brücke irgendwann abgebrochen sein wird, kann die Wolframstraße in ihrem bisherigen Verlauf nicht einfach höher gelegt werden, weil sie unmöglich auf der Distanz von nur etwa 12 Metern zwischen Tunnel und der ersten Brücke des Gleisvorfelds auf ihr dortiges Straßenniveau heruntergeführt werden kann.

Wer sich weiterhin fragt, warum man den neuen S-Bahn-Tunnel nicht gleich so tief legt, dass die Wolframstraße auf ihrem heutigen Niveau verbleiben kann, sei auf den Mineralwasserspiegel verwiesen, der einen noch tiefer liegenden Tunnel nicht zulässt. Durch seine jetzt geplante halbhohe Lage wirkt der neue Tunnel dafür wie ein Staudamm, der bei Starkregen dazu führen könnte, dass die Wolframstraße an der Einmündung der Nordbahnhofstraße zum See wird. Zur Ableitung der Wassermassen aus der Wolframstraße und der Nordbahnhofstraße braucht man also nicht nur einen normalen, sondern einen höchst leistungsfähigen Abwasserkanal, der durch einen baulich aufwändigen Düker unter dem Tunnel hindurch geführt werden muss.

Wie lange muss die Wolfram-Passstraße erhalten bleiben?

Eine grobe Zeitabschätzung ergibt Folgendes:

2018 will man die Umfahrung bauen. Mit einer Inbetriebnahme des S21-Tiefbahnhofs ist keinesfalls vor 2023 zu rechnen. Wenn S21 in Betrieb gehen und sich nach ca. 12 Monaten halbwegs stabilisiert haben sollte, könnte man im allerbesten Fall an den Rückbau des Kopfbahnhofs und der bestehenden Bahnanlagen gehen. Der Begriff Rückbau ist mit Bedacht gewählt, weil die Ingenieure22 keinesfalls mit der völligen Stilllegung des Kopfbahnhofs rechnen. Für den Rückbau heute bestehender Bahnanlagen einschließlich Beseitigung etwaiger Altlasten und den Abbruch der heutigen Bahnbrücken über die Wolframstraße wäre mit 1,5 bis 2 Jahren zu rechnen. Nach dieser Abschätzung könnte die Wiederherstellung der Wolframstraße etwa im Jahr 2026 beginnen.

Und wenn nun noch die - eigentlich längst fällige - Entscheidung fiele, den Kopfbahnhof tatsächlich nicht oder nicht vollständig aufzugeben, müssten auch die heutigen Bahnbrücken bleiben. Bleiben die Brücken, muss auch die Wolfram-Passstraße bleiben. Denn zwischen der nördlichsten Brücke und dem neuen S-Bahntunnel liegt mit nur ca. 12 Metern ein viel zu geringer Abstand, um eine geradlinig geführte Wolframstraße über eine Rampe um die notwendigen ca. 4 Meter auf ihr bisheriges Niveau unter den Brücken herunterführen zu können. Also wäre ein Neubau der Brücken mit einem um 4 bis 5 Meter angehobenem Gleisniveau notwendig. Dazu müssten alle Gleise beidseits der neuen Brücken über eine Länge von ca. 200 Meter aufwändig auf Rampen neu verlegt werden.

Würde nur ein Teil des Kopfbahnhofs erhalten, könnte man eventuell auf einen Teil der Brücken verzichten, sie abreißen und dadurch den Abstand zwischen neuem Tunnel und den Brücken vergrößern. Aber der Verlauf der Wolframstraße würde trotzdem abenteuerlich, wenn man den Höhenunterschied von 4 Metern mit einer nur 40 Meter langen Rampe zu überwinden hätte. Dann also auch hier: Neubau der Brücken.

Wie auch immer die tatsächliche Lösung aussehen mag, die wiederhergestellte Wolframstraße gäbe es vielleicht irgendwann zwischen 2027 und 2029.

Gerät so das seit Jahrzehnten favorisierte Konzept, den Arnulf-Klett-Platz vom Individualverkehr zu befreien und die Verkehrsberuhigung der City voranzutreiben, etwa bedrohlich ins Wanken oder gar in den Papierkorb, weil der dafür notwendige Ausbau der Wolframstraße nicht zustande kommt? Wir Ingenieure22 rechnen damit, erneut der ewigen Unkenrufe und des Pessimismus bezichtigt zu werden. Vielleicht dämmert es jetzt aber auch einigen Leuten mehr, dass bei Stuttgart 21 noch längst nicht „der Käs gegessen“ ist, sondern dass wir noch einen hindernisreichen und langwierigen Prozess mit ungewissem Ausgang vor uns haben.


Presseartikel aus der Onlineausgabe der Stuttgarter Zeitung vom 7.9.2017